0BSKM aus Interventionsperspektive

Karsten Ehms

Knowledge Management Essentials • Das Kuratierte Dossier, Band 5 • März 2023
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Zum Key Visual: Solarkompass für die Seelogistik, Patentmodell 1847, USA. Das Messgerät dient der standardisierten Fehlerreduktion beim Navigieren auf See. Es vereinigt mehrere grundlegende Funktionen: die Messung möglicher Ungenauigkeiten bei der Bestimmung der Himmelsrichtung, die exakte Berechnung des Breitengrades, sowie die genaue Bestimmung des Längengrades. (Bildquelle: Smithsonian National Museum of American History, USA, CC0)

Zero Bullshit Knowledge Management (0BSKM, GfWM 2020) entstand während der letzten Jahre als Denkrahmen zur Verdichtung meiner Erfahrungen bezogen auf sich wiederholende Fragen nach dem Zustand, manchmal Stillstand, unserer Disziplin. Es lag und liegt in der Natur einer derartigen Analyse, dass Fragen nach Methoden und Interventionen, also Maßnahmen, um Wissensmanagement in einem spezifischen Fall voranzubringen, nicht im Mittelpunkt standen. Diese Strukturanalyse soll im vorliegenden Beitrag um einige Gedanken erweitert werden, die in Richtung Intervention zielen. Um eine Einordnung für forsche AktivistInnen zu leisten: Rezeptwissen, “how-to’s” und “best practices” kann es auch in diesem Beitrag nicht geben. Die Komplexität des Gegenstands gebietet den Hinweis. Mittlerweile ist es state-of-the art, dass bei Interventionen im Komplexen iterativ, zyklisch, mithin “agil” agiert werden sollte, da es den perfekten Plan nicht geben kann. Die PraktikerIn sieht sich gerade deswegen einem Kommunikationsproblem gegenüber, denn sind die Erwartungen bzgl. einer Intervention, einer Maßnahme, eines organisationsinternen Programmes erst einmal kommuniziert, führen Enttäuschungen schnell zu einem “Verbrennen” der kommunizierten Konzepte. Natürlich kann dies theoretisch(!) durch ein konsequentes Bezugnehmen auf experimentell-iteratives Vorgehen (“Lernreise”) balanciert werden, praktisch ist es günstig, möglichst wenige konzeptionelle Fehler bei der “Reiseplanung” zu machen. Diesem Ziel soll der vorliegende Beitrag dienen.

Die Struktur von 0BSKM sieht drei Bereiche vor. Umgangssprachlich zugespitzt “Sünden” (rot), “Rückenwind” (grün) und strukturelle Herausforderungen (orange). Für sie kann man eine übergeordnete Interventionsperspektive einnehmen.

Roter Bereich

Der rote Bereich (Sünden) ist im Artikel (veröffentlicht im Kuratierten Dossier “WM Quo Vadis”, GfWM 2020) überschrieben mit “Was sollen wir gelernt haben, akzeptieren und ‘einfach’ sein lassen?’”. Damit ist die Intervention gleichsam vorgegeben, nämlich, Praktiken zu beenden. Ganz so einfach ist es dann doch nicht und so ist im genannten Artikel, trotz seiner knappen Darstellung, bereits darauf hingewiesen, dass die kritisierten Praktiken relativ leicht auszuräumen seien, sofern man deren Hintergründe akzeptiert. Im Falle der Wissenschaft läuft es auf eine bessere Rezeption von Forschungsergebnissen hinaus, also durchaus auf eine Komplexitäts- und Anstrengungserhöhung (vgl. Lotter 2021) getrieben. Ohne diesen könnte man die eine oder andere Publikation durchaus besser “einfach sein lassen”, wie es die rote Kategorie verspricht.

Auch den zweiten Faktor (Kodifizierungsfalle) mit der für wirkungsvolle Interaktionen hinderlichen Trennung der “Disziplinen” Mensch und Technik kann man nur überwinden, indem die Interdisziplinarität gestärkt wird. Aktuell entstehen neue Herausforderungen durch die global vernetzte “Masse” an digital kodifizierter Information. War in den Anfängen des Wissensmanagements die Kodifizierung in der Praxis als mühsame Praktik betrachtet worden, machen in jüngerer Vergangenheit Anwendungen generativer Sprachmodelle (GPT, GPT-2, GPT-3) Schlagzeilen (ChatpGPT von “OpenAI”). Durch sie kann eine, im Prinzip unbegrenzte Menge an neu (re-)kombinierten(!) kodifizierten Texten erzeugt werden. Wie sich das auf die Trennung der human-zentrierten Sicht auf Wissensmanagement von “den Technikern” auswirkt, kann gut als Ausgangspunkt weiterer (anderer) Diskussionen dienen.

Dem dritten Faktor (Interessensgeleitete Rezeptversprechen) lässt sich vermutlich in dem Maße entgegenwirken, in dem Vermarktungs- und Verwertungsdruck, in Einzelfällen persönliche Eitelkeiten, überwunden und gleichzeitig kritisches Denken und Hinterfragen verstärkt eingeübt werden. Mit den Überlegungen im vorherigen Absatz lässt sich nun eine kühne These entwickeln. Wenn die Produktion qualitativ zwar stark risikobehafteter, oberflächlich jedoch plausibel wirkender Rezepte für komplexe Probleme automatisiert ist, kommt es dann zu einer Renaissance der Rezeption von Texten? Wird also die hier geforderte kritische Rezeption wieder verstärkt als wertvoll gesehen? Es könnte ein Silberstreif am Horizont einer informationell überversorgten Gesellschaft sein, der letztlich jedoch auf individuelle Einsicht durch Erfahrung setzt.

Grüner Bereich

Im grünen Bereich (Rückenwind) der 0BSKM-Grundstruktur sind die Entwicklungen skizziert, die einer erfolgreichen Implementierung von Wissensmanagement Vorschub leisten könnten. Persönliche Digitalwerkzeuge erleichtern sowohl eine – bei Bedarf – transparente Vernetzung von Menschen als auch die oft beiläufige Erstellung kodifizierter Information. Insofern unterstützen sie beide Dimensionen des Wissensaustausches, den kodifizierten als auch die persönliche, synchrone Interaktion. Herausforderungen entstehen zunehmend durch die Granularisierung der Informationseinheiten (früher “Dokumente”) und Fragmentierung im Sinne einer Verteilung über verschiedenste Kanäle und Plattformen. Die Herausforderungen des kodifizierten Wissenstransfers sind damit aus einer Situation der Knappheit in ca. zwei Jahrzehnten in eine Problemlage des Überflusses “gekippt”.

Berücksichtigt werden sollte außerdem, dass kodifzierte Information nicht gleich kodifizierte Information ist. Vielmehr scheint eine Verschiebung hin zu digitalisierter gesprochener Sprache stattzufinden, die von Schriftsprache unterschieden werden kann. Die Diskussion um diese Verschiebung ist ungefähr so alt wie die Disziplin Wissensmanagement (vgl. Ong 1982, ‘secondary orality’) und für unsere Vorstellungen, was gültiges Wissen sein soll und wie es weitergegeben werden kann, hoch relevant. Bewegen wir uns weg von einer literalen zu einer digital-oralen Wissenskultur? Der Erfolg von Podcasts ist in diesem Zusammenhang ein interessantes Phänomen. Nicht zuletzt, weil der Podcast neben dem Bezug zum gesprochenen Wort auch eines der wenigen längeren Formate ist und als Gegenströmung zur oben beschriebenen Granularisierung (vgl. Kucklick 2016) verstanden werden kann.

Interessanterweise lässt sich aus dem “grünen Bereich”, der Wissensmanagement erleichtern kann, gar nicht so viel für eine Interventionsperspektive ableiten. Zum einen, weil es sich um ohnehin im Gange befindliche, im wesentlichen technik-getriebene Entwicklungen handelt, zum anderen, weil diese sowohl auf eine Kodifizierungsstrategie als auf eine Personifizierungsstrategie des Wissensmanagements (Hansen et al. 1999) wirken, die oben bewusst als “Dimensionen” von Interventionen in verständlicheren Worten dargestellt wurden.

Das Orange

Es bleibt der orange Bereich (Herausforderungen) des 0BSKM-Basismodells, der sich mit den nachhaltigen Komplexitätstreibern unserer Disziplin beschäftigt. Ist hier etwas für eine Interventionsperspektive und -praxis zu gewinnen?

Dass es bei Wissensmanagement-Interventionen in der Regel um langfristige Transformationen von Abläufen in Organisationen geht, hat in der Regel damit zu tun, dass Organisationen als soziale Systeme per se eine gewisse Stabilität und Resilienz gegenüber eigenen Strukturänderungen aufweisen. Hier mag der Trend zu agileren Formen hilfreich sein, der seine Akzeptanz aus den Erfolgen in Software-Firmen und -Abteilungen bezieht. In solchen Organisationen baut das Geschäft in ursprünglicher Weise auf immaterieller Wertschöpfung auf und ist von einer Optimierung der Koordination geistiger Arbeit abhängig, im Gegensatz zur physischen Arbeit. Damit ist bereits der zweite Faktor im orangen Bereich adressiert.

In diesem Zusammenhang könnte man sich fragen, weshalb andere “Geschäfte”, die sich ebenfalls grundlegend auf geistige Arbeit und Wissensweitergabe stützen, keine agilen Steuerungsformen hervorgebracht haben. Zu denken wäre beispielsweise an Beratungsfirmen, Schulungsanbieter und nicht zuletzt Schulen. Im letzten Beispiel kann angemerkt werden, dass es vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wunsches nach Demokratie (“mehr Demokratie wagen”) sehr wohl Bestrebungen gab, mehr Partizipation in Entscheidungswege zu implementierten. Allerdings waren in den 70er Jahren digitalen Vernetzungstechnologien nicht verbreitet.

Das letzte hier zu behandelnde Feld, die Interdisziplinarität von Wissensmanagement, wurde bereits oben erwähnt. Interventionen in Unternehmen können diesen Umstand dadurch berücksichtigen, indem sie Wissensmanagement-Positionen mit interdisziplinär ausgebildeten Mitarbeitern besetzen oder dafür interdisziplinäre Teams zusammenstellen. Am besten beides! Wie schon 2020 im Ursprungsartikel bemerkt, geht es nicht nur um die Unterscheidung Mensch/Technik und entsprechende Fertigkeiten, sondern meist auch um grundlegende, im Alltag implizite Werthaltungen, welche Beobachtungen und Erklärungen als richtig und gültig wahr(!) angenommen werden. Vielleicht hilft sogar der aktuelle Hype um den auf machine learning basierenden Teil der künstlichen Intelligenz dabei, statistische Wahrheitsmodelle zu akzeptieren, wie sie in den Human- und Sozialwissenschaften gang und gäbe sind.

Wiederholt wurde herausgearbeitet, wie wichtig der Aspekt der Interdisziplinarität ist, so dass ich hier eine ergänzende Darstellung der 3×3 Faktoren des 0BSKM anbieten möchte, die die beschriebenen Zusammenhänge aufzeigt.

Einige Zusammenhänge der Schlüsselkonzepte von 0BSKM (Abbildung: K. Ehms)

Genuine Interventionsformen

Jenseits der grundlegenden Struktur von 0BSKM und den skizzieren Überlegungen, was diese für Interventionen bedeuten könnten, haben wir in einem Workshop im kuratierten Track des Knowledge Camps 2022 der GfWM diskutiert, welche Methoden “genuin” der Disziplin Wissensmanagement zugerechnet werden können. Die Überlegungen wurden durchaus als inspirierend für die andauernde Identitätsarbeit unserer Disziplin wahrgenommen. Keinesfalls sollte die Beherrschung dieser Felder, wenn auch anspruchsvoll genug, mit einem vollständigen oder hinreichenden Fertigkeitskatalog für praktizierenden Wissensmanager oder Transformationsberater verwechselt werden!

Folgende Methoden wurden als konstituierend beschrieben:

  • Communities of Practice, zumindest scheinen die Bücher von Wenger (1998 und weitere Artikel) vor allem in der Wirtschaftspraxis rezipiert worden zu sein. So sind Communities of Practice auch 20 Jahre später noch ein probates Mittel, um bei Querschnittsthemen Interaktionsstrukturen zu etablieren, die die in der Regel immer noch hierarchische Aufbauorganisation größerer Organisationen ergänzen.
  • Die Bereithaltung bestimmter Methoden für Leaving Experts, also für das Phänomen, dass spätestens mit der Berentung einzelner Schlüsselmitarbeiter, der Zugriff auf nicht kodifiziertes oder die Interpretation von kodifiziertem Spezialwissen, für die Organisation nur noch schwer möglich ist.
  • Wissensverzeichnisse, die Wissenslandkarten, die über Experten und Themen Auskunft geben können
  • Strategische Instrumente zur Wissensanalyse zur Analyse und Bewertung des für eine Organisation verfügbaren Wissens (Wissensbewertung, “Wissensbilanz”, Wissensstrategie) und / oder den in diesem Zusammenhang etablierten Praktiken / Prozeduren / Prozessen (Wissensmanagement-Bewertung)
  • Storytelling sowie das Sammeln und Visualisieren von Micro-Narrativen (vgl. Snowden); beide Ansätze werden zum narrativen Wissensmanagement gezählt, wobei sie sich bezüglich der Ansprüche an die Authentizität des “Geschichtsmaterials” stark unterscheiden. Es muss angemerkt werden, dass die Erforschung von Narrativen bereits vor der Erfindung des Wissensmanagement als ethnographische Methoden in Anthropologie und Ethnologie etabliert war.

Referenzen
Ong (1982). Ong, Walter J. Orality and Literacy. The Technologizing of the Word. Routledge.
Wenger (1998). Wenger, Etienne. Communities of practice: learning, meaning, and identity. Cambridge University Press.
Hansen (1999). Hansen M.T., Noriah, N., Tierney, T. What’s your strategy for managing knowledge? Harvard Business Review 77 (2), 106-116.
Kucklick (2016). Kucklick, Christoph. Die Granulare Gesellschaft. Ullstein Verlag.
GfWM (2020). Kuratiertes Dossier Wissensmanagement quo vadis? Teil 1/2, online verfügbar via https://www.gfwm.de/kuratiertes-dossier-gkc20/
Lotter (2021). Lotter, Wolf. Strengt euch an!: Warum sich Leistung wieder lohnen muss. ecoWing Verlag.


Karsten Ehms (Dr. phil. Dipl.-Psych.) versteht sich als interdisziplinärer Problemlöser. Er entwickelt seit zwei Jahrzehnten sowohl technische als auch soziale Systeme. Die Bandbreite der bisher ca. 100 Projekte reicht von der wissenszentrierten Strategieberatung bis zur Entwicklung digitaler Kollaborationsplattformen auf Konzernebene. Neben seiner Arbeit im Team Datenanalyse und künstliche Intelligenz in der Technologieabteilung der Siemens AG lehrt und forscht er zum Verhältnis von Menschen, Teams und Organisationen zu ihren digitalen Werkzeugen. – Kommentare zum Beitrag gerne an: 0BSKM@karsten-ehms.net oder @karstenpe bzw. #0bskm

Vortrag von Karsten Ehms beim GfWM Track #gkc22: „Zero BS Knowledge Management (#0BKSM)“ – Aufzeichnung GfWM YouTube-Kanal


Über diesen Beitrag Text: Karsten Ehms · Redaktionsteam: Andreas Matern, Stefan Zillich · Bilder – Key Visual: Smithsonian National Museum of American History, USA, CC0 · Abbildung: Autor des Beitrags · Editorial Design: Stefan Zillich, re:Quest Berlin · Veröffentlicht in: Das Kuratierte Dossier, Band 5 „Knowledge Management Essentials“, März 2023, ISSN (Online) 2940-1380 · Veröffentlicht von: Gesellschaft für Wissensmanagement e. V. · Gedruckte Ausgabe bestellen · Über die Reihe Das Kuratierte Dossier · © Autor / GfWM e. V. 2023 · Impressum: Creative Commons Attribution NoDerivatives 4.0 International (BY-ND)

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