„New Normal“ – ein gemeinsamer Weg!
Erkenntnisse und Einsichten nach der Corona Krise aus Sicht des Knowledge Management der Otto Group
Juliane Dieckmann, Head of Otto Group Digital & Consulting Knowledge Management
Durch die Corona Pandemie ist Vieles in der Arbeitswelt, insbesondere in der Welt der Wissensarbeit, nicht mehr so, wie man es vor 2020 als „normal“ empfunden hat. Viele Gewohnheiten, Standards und „Das-machen-wir-immer-so“ haben in den letzten Monaten ihre Daseinsberechtigung verloren.
Unternehmen wie die Otto Group (1) waren durch die Extremsituation gezwungen mit ihrer Belegschaft den bisherigen „normalen“ Arbeitszustand abrupt zu verlassen und neue (digitale) Wege zu gehen. Ein Blick zurück: Mitte März 2020 schickte der Großteil der Otto Group Konzerngesellschaften, vorwiegend die Unternehmen im deutschsprachigen Raum, ihre Belegschaften von einem Tag auf den anderen nach Hause. Mobiles Arbeiten galt als allgemeingültiger Arbeitsmodus für alle, deren Verantwortungs- und Aufgabenbereiche dies zuließen.
Ein Ende der Pandemie ist nun hoffentlich bald abzusehen, aber das neue Arbeiten hat Spuren hinterlassen und erfordert eine neue Definition der zukünftigen Art und Weise der Zusammenarbeit in der Otto-Welt.
Die Otto Group gehört mit einem Onlineumsatz von 9,9 Milliarden Euro zu den weltweit größten Onlinehändlern und kam finanziell gesehen unbeschadet, ja sogar gestärkt durch die Krise. Dies war einerseits auf die enorme Nachfrage nach online Konsumgütern und Logistikdienstleistungen zurückzuführen, andererseits auf die Aufrechterhaltung der Arbeitsproduktivität und der hohen Leistungsbereitschaft der Mitarbeitenden trotz neuer Arbeitssituation. Dies wurde durch drei wesentliche Voraussetzungen möglich gemacht:
(1) Die Otto Group befindet sich seit geraumer Zeit in der digitalen Transformation. Daher ist die technologische Basis wie Cloud-basierte Collaboration-Tools und die Ausstattung der Mitarbeiter*innen mit mobilen Endgeräten und anderen Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebes in der digitalen Arbeitswelt bereits vorhanden gewesen.
(2) Eigenverantwortliches Handeln und die Anpassungs- und Reaktionsfähigkeit auf neue Situationen sind bereits vor der Corona Krise in die DNA des Unternehmens übergegangen. Die Basis dazu wurde in der Otto Group durch den sogenannten „Kulturwandel“ gelegt, der 2015 ausgerufen wurde. Ein offener, partizipativer Prozess, der durch radikales Infragestellen bestehender Strukturen und großer Gestaltungsfreiheit, die Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit der Konzernmitarbeiter*innen vorantreibt. Das bedeutet auf der einen Seite, dass jeder Mitarbeitende Verantwortung übernehmen und ihre/seine Arbeit mitgestalten kann und soll, auf der anderen (Führungs-)Seite, Freiraum zu geben, zu vertrauen und loszulassen.
(3) „Geteiltes Leid, ist halbes Leid!“ Man darf nicht vergessen, dass alle Beteiligten, d.h. vom Vorstand über die Geschäftsführung bis hin zum Azubi sich in derselben Situation, bzw. am gleichen Ort befanden: ihrem zu Hause! Schlechte WLAN-Verbindung, verwirrende fremdgesteuerte Software-Updates oder Familienmitglieder, die mitten im Video-Call durch das Bild liefen, machten das Arbeiten in der neuen Umgebung nicht einfacher. Jedoch saßen alle im selben Boot, was das Gemeinschaftsgefühl ungemein förderte und für eine gesunde Gelassenheit sowie Verständnis sorgte, wenn etwas mal nicht perfekt im digitalen Arbeitsablauf oder in der Kommunikation funktionierte.
Der neue mobile Arbeitsmodus in der digitalen Welt hatte einwandfrei funktioniert und machte deutlich, dass das Büro nicht als die einzige „normale“ Arbeitsstätte definiert werden kann. Aber nach 18 Monaten mobilem Arbeiten wurden auch Defizite sichtbar, die sich zum Beispiel in der wissensintensiven Arbeit des Otto Group Knowledge Managements herauskristallisierten.
Exkurs:
„New Normal“ am Beispiel des Wissenstransfers der Knowledge Managements der Otto Group
Der Hauptauftrag des Otto Group Knowledge Management fokussiert sich auf das Vorantreiben des konzernweiten Wissenstransfers, Networkings und Zusammenarbeit von Fachexpert*innen. Eine Aufgabe, bei der der Mensch als fundamentaler Träger des Wissens im Mittelpunkt steht und weniger die technologischen Systeme. Das physische interaktive Zusammenkommen von Kolleg*innen im Rahmen von Best-Practice-Veranstaltungen galt daher für die erfolgreiche Umsetzung des Wissensmanagement als eine notwendige Bedingung. Diese Veranstaltungen sind ursprünglich ein-zweitägige reine Präsenzveranstaltungen, auf denen Expert*innen, Fachbereichsverantwortliche und/oder Führungskräfte aus dem Konzern sich treffen und über aktuell relevante Themen und Fragestellungen intensiv austauschen.
Durch die Verlagerung der Wissensarbeit in die digitale Welt wurde das Angebot an analogen Austauschformaten kurzerhand in Video-Calls transferiert. Dies ermöglichte eine bisher ungeahnte Reichweite und Reduzierung des organisatorischen sowie monetären Aufwands bei der Durchführung der Veranstaltungen. Die Anzahl der Best Practice Events verdreifachte sich von 35 Präsenzveranstaltungen auf circa 100 digitale Konferenzen und Round Tables pro Jahr. Die Teilnehmeranzahl stieg auf über 2.000 Personen p.a. Die hohe Nachfrage und Reichweite war ein Erfolg, der nur durch die neue digitale Arbeitsweise erzielt werden konnte. Aber mit der Zeit wurden auch Nachteile und Grenzen des digitalen Austauschs sichtbar:
- Im Gegensatz zur Präsenzveranstaltung werden in digitalen Konferenzen tiefergehende und lebhafte fachliche Diskurse eher seltener geführt. Der Frontalvortrag steht im Vordergrund und ist auch technisch am einfachsten zu realisieren. Kontroverse Diskussionen und aktive Fragerunden sind jedoch ein wesentlicher Bestandteil der Wissensmanagementkultur und erhöhen die Qualität des Wissenstransfers enorm.
- Trotz des ausgebauten Angebots an kreativen digitalen Netzwerkformaten seitens des Knowledge Managements -Bereichs werten die Teilnehmer*innen den fehlenden persönlichen 1:1-Austausch mit anderen Fachexpert*innen als besonderen Nachteil. Spontanität, Inspiration und geistige Kreativität durch ungezwungenes Socializing in den Pausen und im Auditorium vor Ort fehlen.
- Im Laufe der Zeit wurde eine gewisse Passivität und Unverbindlichkeit der Teilnehmer*innen spürbar, was sicherlich auch auf die allgemeine „digitale“ Ermüdung zurückzuführen ist. Zu beobachten waren spontanes Nichterscheinen ohne vorab abzusagen, nur temporäres Zuschalten in den Calls und Anwesenheit bei ausgeschalteter Kamera, da man wahrscheinlich noch anderen Verpflichtungen parallel nachging und nur mal „reinhören“ wollte. Diese Phänomene wären vor der Corona-Krise bedingt durch die persönliche Präsenz undenkbar gewesen.
Learning für das KM
Der digitale Wissensaustausch wird in der Otto Group auch nach der Krise ein unverzichtbarer Bestandteil des „New Normal“ bleiben – jedoch nicht zu 100%! Die in den letzten Monaten gesammelten Erfahrungen in der digitalen Welt mit neuen technischen Features, neuen Methoden und „digitalen Verhaltenskodex“ sind für das Wissensmanagement ein enormer Sprung nach vorn. Durch die wegfallenden Reiseaktivitäten war „distanz-unabhängige“ Einbindung neuer Kolleg*innen, insbesondere aus internationalen Tochterfirmen, in das Best-Practice Netzwerk noch nie so einfach und effizient. Aber die Erfahrungen zeigen auch, dass das persönliche Zusammenkommen vor Ort ein fundamentaler Bestandteil ist, um Wissen, Kultur und innovatives Gedankengut weiterzuentwickeln. Energie und Inspiration fließen, wenn Menschen sich tatsächlich gegenübersitzen. Daher werden Präsenzveranstaltungen wieder an Relevanz zu nehmen und auch weiterhin im Portfolio des Wissensmanagements eingesetzt werden – jedoch gezielter und sparsamer! Hybride Austauschformate, die eine Mischform aus präsenter und remoter Arbeitsform darstellen, werden in nächster Zeit ein zusätzliches Lernfeld für das Otto Group Knowledge Management. Noch sind die Erfahrungen zu gering und nicht überzeugend genug, um erfolgreiche Formate mit mehr als 10 Personen umzusetzen. Daher muss sich das Knowledge Management Team der technischen und methodischen Herausforderung stellen, vieles ausprobieren und experimentieren, um ein optimales Angebot zu entwickeln. Letztendlich wird es wahrscheinlich auf eine Kombination unterschiedlicher Formate aus sämtlichen Arbeitsmodi hinauslaufen, die je nach Ziel, Bedarf der Teilnehmerschaft und Berücksichtigung äußerer Umstände bewusst und flexibel ausgewählt und zu einem neuen Status-Quo weiterentwickelt werden.
Learning für die Otto Group
Vorschriften hinsichtlich „remote only“, hybrides Arbeiten oder Anwesenheitspflicht im Büro mit allen dazugehörigen Konsequenzen werden in der Otto Group bewusst nicht von der Unternehmensführung top-down vorgegeben. Stattdessen wird an die Verantwortung der jeweiligen Teams und Prozessbeteiligten inkl. Führungskräfte appelliert, eine Form der Zusammenarbeit zu finden, in der auf Team-, bzw. Prozessebene effizient und produktiv gearbeitet werden kann. Lernen und Experimentieren stehen auch hier ganz oben auf der Tagesordnung. Persönliche Wünsche, Vorlieben und Vorteile des Einzelnen werden sich dem unterordnen müssen, immer dort, wo der reibungslose Ablauf in der Zusammenarbeit auf Arbeitsebene nicht mehr gewährleistet werden kann.
Kern der zugrundeliegenden Haltung ist, im Diskurs gemeinsam das „New Normal“ zu gestalten, kontinuierlich zu reflektieren, bewusst infrage zu stellen und in der Gruppe zusammen weiterzuentwickeln.
Fazit
Nach einer weltweiten Krise, die tiefgreifende Einschnitte in unser aller (Arbeits-)Leben verursachte, darf man keinesfalls erwarten, dass sich die Uhren zurückdrehen lassen und sich der Status-Quo wieder per Anordnung auf den Stand vor der Krise zurückwandelt. Das „Old Normal“ existiert in Gänze nicht mehr! Die Freiräume, die Eigenverantwortung und das Vertrauen, die während der Pandemie den Mitarbeiter*innen übertragen wurden, um ihre individuelle Situation privat als auch beruflich flexibel meistern zu können, können nicht ohne heftige Widerstände und schwerwiegende Konsequenzen von den Führungskräften einfach zurückgenommen werden. Warum sollten sie auch? Die Mitarbeiter*innen inkl. Führungskräfte sind in den Teams während der Corona Zeit weiter gewachsen in Richtung selbstverantwortlicher Arbeitseinstellung und effektiver Lösungsfindung.
Welche konkreten Ausprägungen und Standards das „New Normal“ in der post-Corona Arbeitswelt letztendlich mit sich bringen wird, und welche Voraussetzungen und Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden müssen, wird sich daher in den nächsten Monaten zeigen. Es wird auf jeden Fall ein dynamischer Prozess sein, in dem gemeinsames Lernen und Experimentieren zu den besten Lösungen führen wird, die sich als die neue Realität durchsetzen werden. Wir sind erst am Anfang des Weges zum „New Normal“, den wir nur gemeinsam gehen können!
(1) Die Otto Group ist eine weltweit agierende Handels- und Dienstleistungsgruppe mit rund 50.000 Mitarbeiter*innen mit 30 wesentlichen Unternehmensgruppen, die in Ländern Europas, Nord- und Südamerikas und Asiens präsent sind.
Juliane Dieckmann, Head of Knowledge Management in der Otto Group Holding, ist im Bereich Digital & Consulting u.a. verantwortlich für den konzernweiten Wissenstransfer und Best Practice Austausch. Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre in Kiel und Paris folgte der Berufseinstieg im Consulting Unternehmen PriceWaterhouseCoopers, wo der Grundstein zum Thema Wissensmanagement gelegt wurde. Nach mehreren Stationen in der Otto Group u.a. Konzernentwicklung und Betreuung der französischen Konzerntöchter konzentriert sie mit anhaltender Begeisterung auf die Aufgabe, das Knowledge Management in der Otto Group für den Weg in die digitale Transformation fit zu machen und dabei den Menschen nicht aus den Augen zu verlieren.
Über diesen Beitrag Text: Juliane Dieckmann · Redaktion: Stefan Zillich, Andreas Matern · Abbildungen: Header: pixabay, Bearbeitung: Stefan Zillich · Editorial Design: Stefan Zillich, re:Quest Berlin · Veröffentlicht in: Kuratiertes Dossier „Wissensmanagement – New Normal“, Online Magazin Startseite – Gedruckte Ausgabe bestellen · Über die Reihe „Das Kuratierte Dossier“ · © AutorInnen / GfWM e. V. 2021 · Kontakt zum Redaktionsteam