Wissensmanagement können alle Menschen und am besten die Maschinen?
Gedanken zum „New Normal“ im Praxistest
Dr. Ruth Elsholz,
PricewaterhouseCoopers GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft
Als ich den Titel zum KnowledgeCamp gkc#21 gelesen habe, Wissensmanagement sei das New Normal, regte sich sofort Widerspruch in mir.
(1) Weil Wissensmanagement nach meiner Erfahrung schon seit über 20 Jahren insofern „normal“ ist, als es nach allgemeiner Business-Einschätzung „sowieso jeder kann.“
(2) Weil es nach persönlicher Expertinnen-Einschätzung eher Wenige können, was sich allerdings auch durch den pandemiebedingten Digitalisierungsschub, von dem alle Welt spricht, nicht geändert hat.
Insofern möchte ich mit diesem Beitrag als langjährige Praktikerin im Wissensmanagement, oder Knowledge Transfer, wie wir in unserem Unternehmen sagen, empirische Erfahrungen aus der Wirtschaftsprüfung teilen und gleichzeitig fragen, ob diese Erfahrungen etwas und wenn ja, was sie für die Zukunft des Wissensmanagements bedeuten.
Zugespitzt: Brauchen wir in Zeiten von KI, Smart Search und Data & Analytics noch Wissensmanagement und wenn ja, inwieweit sollte das Expertenhemd nicht besser an Fachleute anderer Disziplinen abgegeben werden, beispielsweise Computerspezialisten oder Mathematikerinnen?
Was ich nicht will, ist über Begriffsdefinitionen philosophieren, denn wie Peter Heisig in seinem Beitrag „Wissensmanagement – Wo stehen wir?“ (1) sehr treffend ausgeführt hat, ist hier keine abschließende Wahrheit zu finden. Viel wesentlicher – auch das klingt in seinem Beitrag an – ist es, dass WM-Lösungen nachweislich effizient und nachhaltig betrieben werden. Denn nur dann werden sie auf Akzeptanz stoßen.
Was meine ich mit Wissensmanagement?
Wissensmanagement oder englisch Knowledge Management, bei uns Knowledge Transfer, meint im Kontext der Wirtschaftsprüfung, in dem ich tätig bin, vor allem die Recherche, Aufbereitung und zielgruppenspezifische Verteilung von Fachwissen.
Um bei der klassischen Hierarchie zu bleiben, die Heisig in seiner Darlegung zitiert, befinden wir uns damit im Bereich der Daten und Informationen, die – gut aufbereitet – zu Wissen werden können und sollen. Die Aufgabe des Wissensmanagements ist nach diesem Verständnis allerdings gerade nicht (!) die inhaltlich vertiefte Aufbereitung der Daten und Informationen, denn das können nur die Fachleute, die bei uns in gesonderten Fachabteilungen sitzen und für spezielle Themen wie internationale Rechnungslegung, Compliance oder Risiko Management zuständig sind.
Tatsächlich – daher das Ausrufezeichen – fängt hier das Missverständnis bereits an und muss die von Heisig benannte Erwartungssteuerung des Wissensmanagements starten.
Ich habe im beruflichen Alltag mehrfach die Aufforderung gehört, den angefragten Fachbeitrag doch selbst zu schreiben, da ich ja Wissensexpertin sei …
Gern wird auch dem Wissensmanagement die Schuld gegeben, wenn man innerhalb von Content-Applikationen vor lauter Wald die Bäume nicht mehr sieht, denn die etwas grobe Gleichung „Shit in = Shit out“ ist zwar richtig, wird aber verständlicherweise nicht gern gehört.
Was ist in diesem Kontext die Aufgabe des Wissensmanagements?
Ich vergleiche das daten- und faktengetriebene Wissensmanagement gern mit einem neu und perfekt eingerichteten Wohnzimmer, in das im Laufe der Zeit von immer mehr Menschen immer mehr Gegenstände hineingestellt werden. Irgendwann ist kein Platz mehr und niemand kann sich mehr bewegen. Man findet auch nichts. Obwohl man weiß, es muss da sein. Kommt Ihnen bekannt vor? Gibt es da nicht jetzt Roboter, die aufräumen? Oder ist das Wohnzimmer nicht inzwischen sowieso in die Jahre gekommen, nicht hyggelig genug, eher old school, und wir sollten es gleich ganz neu einrichten? Oder besser noch das woke Appartement nebenan beziehen? Darin installieren wir den kleinen Pepper, der uns jedes Mal, wenn wir Neues einstellen möchten, daran erinnert, dass es etwas Ähnliches schon gibt und fragt, ob er das ersetzen, entsorgen oder ergänzen soll.
Klingt gut?
Ist aber leider nicht so trivial. Denn entweder sind Systeme meiner Erfahrung nach simpel, dann werden sie selten komplexen Strukturen gerecht, oder sie sind komplexitätsadäquat und daher nicht leicht zu bedienen.
Es mag Ausnahmen und/oder Neuheiten auf dem Markt geben, die mir nicht bekannt sind. Allerdings steht mein Unternehmen nicht für Rückständigkeit im digitalen Bereich und ich berichte ja wie bereits erwähnt aus der eigenen Praxis.
Es genügt meines Erachtens also nicht, dass man Prozesse automatisiert und programmiert, es muss ein menschliches (Fach)Wesen eingebunden sein, dass sich davor, dabei, dazwischen und danach – sowie regelmäßig wieder! – Gedanken macht um inhaltliche Strukturen, Auszeichnungen, Erfordernisse, Gewohnheiten, Wartung, Pflege, Kontrolle, Workarounds und Aufwands-Nutzen-Relationen.
Ein Beispiel aus der Praxis:
Eine Plattform, nennen wir sie IKoM, verspricht uns eine neue Dimension des Informations- und Knowledge Managements. Das Tool arbeitet mit KI und Pattern Language. Durch einen „intelligenten Navigator“, so die Beschreibung, erfolgen Kategorisierung und Strukturierung der Inhalte automatisch und das Auffinden gesuchter Dokumente und verwandter Themen gelingt so intuitiv wie fehlerfrei. Hört sich zunächst vielversprechend an. Nachdem wir die Lösung getestet hatten, stellte sich allerdings heraus, dass sowohl der Knowledge Graph („Tool für effizientes KM“), als auch die smarten Suchprozesse dahinter lediglich als Frontend konzipiert wurden, welches die Daten aus diversen anderen Plattformen beziehen und clustern sollte. Knowledge at your fingertipps? Vielleicht. Um allerdings sicher zu sein, dass die intelligent und automatisch ausgelesenen Daten aktuell und qualitätsgesichert sind, mussten wir uns zunächst die Prozesse der Quell-Plattformen, also das Backend, ansehen. Wobei deutlich wurde, dass auch dort Anpassungen, insbesondere ergänzende Metadaten, erforderlich sein würden, um die Ergebnisse wie gewünscht im smarten Frontend auswerfen zu können. Womit ich nicht sagen will, dass IKoM keine Unterstützung sein kann für ein effizienteres Wissensmanagement. Auch der Wissensgraph ist sicher eine gute Hilfe zum Auffinden von Informationen. Jedenfalls aus der Perspektive der End-Nutzenden, die womöglich schneller und einfacher an ihre Informationen gelangen. Wie qualifiziert und damit brauchbar die Daten jedoch sind, entscheiden diejenigen, die den Kraken füttern. Und ihnen ist hier nur begrenzt geholfen.
Wenn ein Mathematiker behauptet, ein Knowledge Graph sei ein Werkzeug für effizientes WM, ist das für mich ein bisschen so, als behaupte WMF, sein Besteck sei ein Werkzeug für effiziente Ernährung.
Es wurde schon vor Jahren beklagt, dass die Diskussion um die Qualität von WM zu tool-lastig geführt wird. Mit der digitalen Euphorie hat sich das nach meiner Wahrnehmung erneut verschärft, weil zwar einerseits mit der steigenden Informationsdichte in allen Bereichen der Bedarf an Gewichtung, Sortierung und Qualitätssicherung gewachsen ist, andererseits die neuen Techniken eine Art Heilserwartung evozieren, nach der intelligente Systeme, Algorithmen und lernende Software endlich zu dem führen sollen, was man schon immer wollte: Den Bauchladen ohne große Anstrengung sortiert bekommen.
Um bei dem Beispiel IKoM zu bleiben: Wenn smarte Suche, lernende Software und graphische Aufbereitungen zwar begrüßenswerte Optimierungen sind, aber die Zukunft des Wissensmanagements nicht wesentlich befördern, wie würde denn eine optimale Verbindung von digitaler Kompetenz und Wissensmanagement aussehen, die dieses Versprechen einlöst?
Wie kann und muss sich ein Wissensmanagement der Zukunft der neuen digitalen Möglichkeiten bedienen?
„Trust in Transformation“ heißt eine aktuelle Kampagne meines Unternehmens, um den Mandanten Mut zu machen, (digitale) Veränderungen nicht als Bedrohung, als notwendiges Übel in einer beschleunigten Welt zu betrachten, sondern als etwas Positives, Konstruktives. Transformation sollte als Antrieb für den Aufbruch in eine erfolgreiche Zukunft geschätzt und das Vertrauen in Veränderung gestärkt werden.
Ich habe den Slogan für Knowledge Transfer leicht variiert zu „Trust in Information“, denn in Zeiten von Fake News und Bullshit Bingo muss man Informationen vertrauen können, bevor man sie nutzt. Nach meiner Meinung ist dies das Herzstück unserer Wissensarbeit. In dieser Hinsicht sehe ich tatsächlich einen steigenden Bedarf an dem von Heisig geforderten Wissens-Risiko-Management. Für mein Team heißt das schon heute: wir befassen uns zunehmend mit Wissenssicherheit, und zwar nicht nur, indem wir Quellen prüfen und die Aktualität und Qualität der Inhalte sicherstellen, sondern auch, indem wir Wissen und Informationen vor unbefugtem Zugriff schützen und Missbrauch vorbeugen, denn hier liegen doch die wirklichen Herausforderungen der zunehmenden Digitalisierung aller Lebensbereiche.
Darunter fällt:
- Plagiatsverstöße verhindern,
- Urheberrechtsverletzungen vorbeugen,
- Datenschutz garantieren,
- Datenmissbrauch verhindern.
Dazu gehört:
- Eng mit der Rechtsabteilung zusammenzuarbeiten
- und sehr eng mit Information Security.
Denn:
- Plagiieren wird immer leichter, seit es Textmining gibt. Da ist schnell mal ein Beitrag mit „intelligenter“ Software erstellt, der eigentlich nur die wesentlichen Auszüge eines anderen als Zitat-Kompilation zusammenfasst.
- Copyright-Verstöße sind im Zeitalter des Internets und des Copy & Paste-Verfahrens an der Tagesordnung; darauf gilt es durch WM verstärkt hinzuweisen und Content-Produzierende entsprechend zu schulen.
- Interne oder lizensierte Informationen sind klar als solche zu kennzeichnen, damit sie nicht versehentlich mit Unbefugten geteilt werden; Content-Nutzende sind entsprechend zu sensibilisieren.
- Wissensplattformen können gehackt werden und sind daher in Zusammenarbeit mit der IT zugriffssicher zu gestalten.
- Lizenz- und Nutzungsverträge sind mit der Einkaufs- und Rechtsabteilung auszuarbeiten und entsprechend den fortlaufenden gesetzlichen Änderungen ständig aktuell zu halten.
- Ebenso sind mit diesen AGBs und Datenschutzklauseln abzustimmen sowie
- Bedingungen eines datenschutzkonformen Reportings extern mit dem Datenschutz und intern zusätzlich mit dem Betriebsrat abzustimmen.
Zudem sollten Informationsangebote und Wissensplattformen fortlaufend auf ihre Effizienz und nachhaltige Nutzung hin überprüft werden. Peter Heisig hat das für den Expert-Finder gefordert. Ich finde, es trifft auf alle anderen Wissens-Services ebenfalls zu.
Last but not least ist aus meiner Sicht eine sehr enge Vernetzung des Wissensmanagements mit der Bibliothek erforderlich, beziehungsweise mit den Information Service Centern, wie sie inzwischen in manchen Unternehmen heißen, denn Vieles vom oben Geschilderten ist Kerngeschäft der Bibliotheken.
Was heißt das für den WM-Nachwuchs?
Nicht zufällig bilden wir bei uns seit Jahren erfolgreich Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste (IHK) aus, die aus dem Beruf der Bibliotheksassistenz hervorgegangen sind.
Diese wissen am Ende der Ausbildung,
- was „Datenhygiene“ bedeutet,
- dass Vertrauen in automatisierte Prozesse gut ist, Kontrolle aber besser,
- dass man in Schulungen erlernte Selbstverständlichkeiten nicht als bekannt voraussetzen sollte und
- dass Prüfen, Aufräumen, Erinnern und Wiederholen für gutes WM zentral sind.
Sie lernen außerdem, neue Systeme mit Neugier und Entdeckerlust auf Möglichkeiten auszuloten, die Arbeit einfacher, besser, qualitativ hochwertiger zu gestalten.
Sie sind deshalb in vielen, vor allem neu entstandenen Abteilungen als künftige Einsatzkräfte denkbar und werden bereits heute schon sehr geschätzt; in unserem Unternehmen beispielsweise im sogenannten „Middle Office“ bei der Projekt-Pflege, im Digital Store des Bereiches „New Venture“ oder bei „Digital Products & Assets“. Und sie lernen, Geduld zu haben. Denn bisher war es noch immer so, dass nach dem Abflauen der Euphorie über die selbstlernenden Peppers und die innovativen Coding-Fachleute schnell klar wurde, dass effizientes Wissensmanagement mehr ist als Tools und Bits und Algorithmen.
Fußnoten
(1) Prof. Dr.-Ing. Peter Heisig. Wissensmanagement – Wo stehen wir? Eine persönliche Einschätzung. In: Wissensmanagement quo vadis? Kuratiertes Dossier in 2 Teilen zum GfWM Knowledge Camp 2020. Teil 2. S. 26-31. März 2021.
Dr. Ruth Elsholz leitet bei PwC (PricewaterhouseCoopers GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft) den Bereich Knowledge Transfer. Als Unternehmen, das vom Wissen in den Köpfen seiner Mitarbeitenden lebt, hat Wissenstransfer eine lange Tradition bei PwC. Wissen generieren, aufbereiten und transferieren durch maßgeschneiderte Informationssysteme ist eine der Kernaufgaben und das zentrale Recherche-Tool hierfür PwCPlus (www.pwcplus.de). Privat recherchiert die Autorin zum Ausgleich ganz alte Geschichten. Mehr dazu unter www.ruthelsholz.de.
Über diesen Beitrag Text: Dr. Ruth Elsholz · Redaktion: Stefan Zillich, Andreas Matern · Abbildungen: Header: StockSnap / pixabay.com · Editorial Design: Stefan Zillich, re:Quest Berlin · Veröffentlicht in: Kuratiertes Dossier „Wissensmanagement – New Normal“, Online Magazin Startseite – Gedruckte Ausgabe bestellen · Über die Reihe „Das Kuratierte Dossier“ · © Autorin / GfWM e. V. 2021 · Kontakt zum Redaktionsteam